Pandemieklang
Auf Elisabeth Schneiders Initiative hin haben zehn junge Musiker:innen ihre Eindrücke und Gedanken zur Pandemie in Texten zum Ausdruck gebracht. Was bewegt uns? Was verändert sich? Wie hat uns die letzte Zeit geprägt?
Zu lesen gibt es die Texte etwas weiter unten oder
Elisabeth, 26, Geigerin
Jacob, 25, Hornist
Nora, 28, Geigerin
Sophia, 21, Geigerin
Hannah, 25, Flötistin
Freischaffende Musikerin gegen Corona
Seit ich 6 Jahre alt bin, spiele ich Geige. Jetzt bin ich 26. Schon einige Jahre konnte ich als
Freischaffende im Klassik-Betrieb gut leben. Bis die Pandemie einschlug. Die Gedanken, die
ich jetzt nicht mehr unterdrücken kann: „Vielleicht wäre ein sicherer Beruf besser“ oder
„Wie soll ich so eine Familie gründen?“ …das Zweifeln schmerzt, denn Musikerin zu sein ist
etwas, was aus meinem tiefen Innern kommt und etwas, was ich nicht verlieren will.
Ich habe Angst, dass immer mehr freischaffende Musiker*innen durch die Pandemie und
die Perspektivlosigkeit dieser Zeit aufhören. Dass das schon im vollen Gange ist, kriege ich
in meinem direkten Umfeld mit. Dem Zweifel, der Angst und der Enttäuschung möchte ich
Ausdruck verleihen. Denn neuerdings habe ich manchmal das Gefühl, dass mein Dasein als
Musikerin mir durch die Finger rinnt.
Es fällt mir nicht leicht, über mich als Musikerin in Coronazeiten zu schreiben. Wenn ich
wütend bin, kommt bei mir zum Beispiel ganz schnell so etwas wie „Wir sollten VOR der
Autoindustrie kommen!“. Dann merke ich, dass es nicht richtig sein kann, andere
Berufsgruppen einzuordnen. (Auch wenn ich nach wie vor finde, dass Musik wichtiger ist
und mehr kann, als ein Auto. Aber es geht eben nicht um das Erstellen von Ranglisten, das
bringt uns nicht weiter.)
Oder ich denke „Ach, ist jetzt auch egal, dann mach ich eben eine Ausbildung im Finanzamt
oder sowas.“ Mein innerer emotionaler Zeiger dreht ab und zu durch.
Um nicht allein dazustehen, habe ich Musikerfreund*innen nach Texten zu ihren
pandemiebedingten Situationen gefragt. Immer wenn ein neuer Text reinkam, war ich sehr
berührt und manchmal traurig, fühlte mich aber auch bestärkt und war mir sicher: Das
muss raus, das müssen wir sagen!
Mir wurde außerdem klar, dass fast alle Probleme damit haben, über sich zu schreiben in
dieser Zeit. Die Idee, Texte zu sammeln fanden zwar viele super, aber trotzdem kamen
häufig Fragen wie: Passe ich da jetzt wirklich rein? Sollte ich das wirklich sagen? Oder Sätze
wie „Ich komme einfach nicht auf den Punkt.“ Das Thema ist so nah und wichtig für uns
alle, dass es schwierig ist, Abstand zu nehmen und etwas zu Papier zu bringen. Vielleicht
sind wir es auch nicht gewöhnt, uns auf diese Art und Weise zu artikulieren und für uns
einzustehen, weil wir immer dachten, dass Kultur in Deutschland so geschätzt wird. Jetzt
fühlen viele von uns sich vergessen.
Es ist eine Chance zu lernen, LAUT ZU SEIN, zusammenzustehen und sich füreinander stark
zu machen.
Elisabeth, 26, Geigerin
Jung und selbständig in der Krise – ein Leben in der Diskrepanz
Ende Januar des vergangenen Jahres spielte ich mein Abschlusskonzert. Es war ein toller
Abend. Ich hatte das Gefühl, noch auf der Bühne etwas dazugelernt zu haben, war
beflügelt von meinem Können und der Unterstützung um mich herum und fühlte mich
bereit beruflich durchzustarten. Ich war 27, gut ausgebildete Geigerin, hatte bereits ein
halbes Jahr in einem guten Orchester gearbeitet und ein gutes Gefühl für mein Leben.
Dann kam die Krise. Was als Pause zur Reflexion, Wissensvertiefung, Zeit zur
Ausformulierung von Bewerbungstexten anfing wurde zu einem Auf und Ab der
psychischen Stabilität, der Einschätzung des eigenen Berufsbildes und des Selbstwerts.
Wo ist mein Platz in der Gesellschaft? Braucht mich diese Gesellschaft überhaupt?
Diesen Text zu schreiben kostet Überwindung. Überwindung, weil ich mich gerade, Stand
März 2021, psychisch stabil fühle und diese fragile Stabilität einer schlechten Seiltänzerin,
die bloß nicht nach unten schauen sollte, nicht gefährden will. Stattdessen schaue ich nach
vorn, übe mich im Tunnelblick und suche nach Strohhalmen, wo es nur geht. Einher mit
meiner Gefasstheit kommt und geht dieser Aktionismus deutlich häufiger als Gäste in
unserer Wohnung. Das Gefühl, jegliche Planung alsbald wieder über den Haufen geworfen
zu sehen, hemmt. Meine Kreativität, mein Elan, meine Lebensfreude liegen am Boden. In
Momenten, in denen sie kurz aufstehen, blitzt mein „altes Selbst“ durch – ich bin jedes Mal
wieder überrascht und brauche eine Weile, um mich wiederzuerkennen.
Im Tunnelblick nach vorn schauen, oder den Blick auf die Realität weiten und laut werden
für die Kultur. Ich schwanke zwischen dem Einzelkämpferdasein, in dem jeder Strohalm
meiner Psyche guttut und dem Nachdenken über die Situation der Kultur als Ganzes, bei
dem es schwer fällt nicht komplett zu resignieren. Letzteres sagt mir: nichts ist derzeit
planbar, deine Branche hat keinen guten Stand in der Gesellschaft. Alles, was Du
unternimmst fährt gegen die Wand. Du musst noch abwarten, bis Du wieder an der Reihe
bist.
Ein Meer voller Diskrepanzen birgt auch die Coronabürokratie und das Raster, durch das ja
bekanntlich derzeit viele Menschen fallen. Als Zusatzqualifikation und aus großem
Interesse habe ich berufsbegleitend im letzten April einen zweiten Master zur
Instrumentalpädagogin begonnen. Je nach Anlaufstelle bin ich nun mal Studentin, mal
hauptberuflich selbstständige Geigerin. Allerdings war ich noch nie hauptberuflich als
selbstständige Geigerin tätig. Meine Vorjahreseinnahmen aus 2019 waren zwar hoch,
allerdings aus einem Angestelltenverhältnis. Als hauptberuflich Selbstständige war ich für
den erleichterten Grundsicherungseinstieg berechtigt. Konzentriere ich mich aber mangels
Beschäftigungsmöglichkeit zu viel auf mein Studium, verliere ich diese Berechtigung
offiziell wieder. Verwirrt? Ich auch.
Bei einem verpflichtenden Beratungsgespräch kurz vor Ende meines Leistungsbezugs im
Dezember letzten Jahres wurde ich gefragt, ob ich mich denn schon umorientiert hätte.
Seit nunmehr 20 Jahren nimmt das Üben für mich mehrere Stunden täglich in Anspruch.
Seit meinem 7. Lebensjahr ist die Geige Teil meines Lebens.
Groß sind die Hürden, die Ungereimtheiten meiner widersprüchlichen Aussagen, die aber
doch alle wahr sind. Ich habe einen kleinen Nebenjob und Erspartes. Außerdem
Abschlüsse, Qualifikationen und Qualitäten, auf die ich verdammt stolz bin. Ich möchte
keine Almosen. Ich möchte mir selbst meinen Lebensunterhalt verdienen. Punkt.
Zuletzt: wo stehe ich eigentlich im Leben? Auch hier gibt es eine große Diskrepanz
zwischen meiner Selbsteinschätzung und der Realität. Ich bin 28, bereit im Beruf voll
durchzustarten, gut ausgebildet. Auch der Kinderwunsch rückt in greifbare Nähe. Allerdings
möchte ich kein Kind in diese finanzielle Unsicherheit setzen. Auch würde ein
Berufseinstieg als junge Mutter sehr schwer werden. Also heißt es erst einmal abzuwarten,
Fuß zu fassen. Die Karriere verzögert sich. Und die Familienplanung gleich mit.
Nora, 28, Geigerin
im Regen
Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt mich schon der Gedanke, in meinem Berufsleben ein
Orchestermusiker zu sein. Die Stunden, Mühen, Enttäuschungen, die ich bis jetzt investiert
habe, aber auch die Erfahrungen und glücklichen Momente sind niemals in Nummern zu
fassen. Sieben Jahre beschäftige ich mich nun als aktiver Student mit dem Weg, den ich
beschreiten muss, um mein Ziel zu erreichen. Und kurz vor der Ziellinie wird mir jegliche
Möglichkeit genommen, überhaupt den nächsten Schritt zu gehen.
Seit einem Jahr versuche ich mich nun jeden Tag von Neuem zu motivieren, an mir zu
arbeiten und mein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Seit einem Jahr stehe ich im
täglichen Kampf mit mir selber, ob es wirklich das Richtige ist, weiter an diesen Gedanken
festzuhalten und nicht aufzuhören, daran zu glauben, dass ich es schaffe. Denn ohne diesen
Glauben ist es unmöglich – noch nicht einmal, wenn man wieder die Möglichkeit dazu hat.
Ich stehe zum Glück nicht in der Position, für ein ganzes Land Entscheidungen treffen zu
müssen und ich möchte nicht alles kritisieren, was entschieden wurde. Dennoch verstehe
ich nicht, wieso man es immer noch nicht geschafft hat, Menschen eine Perspektive zu
geben. Ich bin einverstanden mit Lockdown, Impfungen und Hygienemaßnahmen. Ich bin
aber nicht damit einverstanden, immer weiter im Regen stehengelassen zu werden, unter
einem Himmel, der sich nicht mal überlegt, wieder aufzuklaren.
Jacob, 25, Hornist
Momentaufnahme – Musikerin
Ich fühle mich nutzlos.
Ich fühle mich allein gelassen.
Ich fühle mich unwichtig.
Ich fühle mich vernachlässigt.
Ich fühle mich ohnmächtig.
Ich fühle mich rastlos.
Ich fühle mich vertröstet.
Ich fühle mich missachtet.
Ich fühle mich ängstlich.
Ich fühle mich still.
Ich fühle mich schwach.
Ich fühle mich ausgegrenzt.
Ich fühle mich passiv.
Ich fühle mich gestresst.
Ich fühle mich ziellos.
Ich fühle mich sorgenvoll.
Ich fühle mich frustriert.
Ich fühle mich antriebslos.
Ich fühle mich ausgelaugt.
Ich fühle mich sinnlos.
Ich frage mich: ist das mein Leben?
Ich frage mich: bin ich systemrelevant?
Ich weiß:
Ich könnte Trost spenden.
Ich könnte Hoffnung schenken.
Ich könnte entspannen.
Ich könnte da sein.
Ich könnte Emotionen freisetzen.
Ich könnte Frust abbauen.
Ich könnte Erinnerungen schaffen.
Ich könnte zum Träumen einladen.
Ich könnte einen Ausgleich darstellen.
Ich könnte inspirieren.
Ich könnte schöpferisch werden.
Ich könnte Kraft geben.
Ich könnte Schmerz lindern.
Ich könnte böse Gedanken vertreiben.
Ich könnte eine Insel schaffen.
Ich könnte Stress verringern.
Ich könnte Zusammenhalt stärken.
Ich könnte sprechen.
Ich könnte stärken.
Ich könnte Anteil nehmen
Ich könnte helfen.
Ich bin nicht systemrelevant.
Ich bin lebensrelevant.
Sophia, 21, Geigerin
Wenn der Weg vorbei führt
März 2021. Die letzte Prüfung ist bestanden und nun hält er nach langen Jahren der Arbeit
sein Abschlusszeugnis in den Händen. Ein künstlerisches Studium an seinem
Hauptinstrument, das durch unzählbare Stunden des Übens seinen Fortschritt nahm und
ihn durch Akademien, Praktika und Zeitverträge bereits in diverse Profiorchester
Deutschlands führte. Seine Arbeit, sein Auftreten und Musizieren weckte zuletzt den
Entschluss, sich nach Erlangen des Abschlusses auf die freischaffende, selbstständige
Szene zu konzentrieren, in der er bereits tief verankert war. Eine Welt, in der man ständig
auf neue Gesichter trifft, gemeinsam aktiv Kunst schafft und in der den Projekten und
Ideen keine Grenzen gesetzt werden. Eigentlich.
Ich treffe ihn zufällig an einem Nachmittag bei einem Spaziergang am Kanal.
Spazierengehen – eine Tätigkeit an der ich mich zwar erfreue, für die ich ich momentan
allerdings so viel mehr Zeit habe, als mir lieb ist.
Wie es denn so gehe? Irgendwie, aber nicht so richtig gut. Die Miete ist hoch, an einen
Proberaum ist gar nicht zu denken, der Geldbeutel leer. Eine Ausbildung zum Tischler
werde er nun beginnen, nicht zuletzt aus Interesse an diesem Beruf, vor allen Dingen
aber, weil die Umstände nicht so bleiben können. Ich stocke. Nicht weil ich den Beruf des
Tischlers nicht zu schätzen weiß, sondern weil mir in diesem Moment klar wird, auf
welches Talent, welchen Antrieb und welche Perfektion die Kulturszene in Zukunft
verzichten wird. Kein Einzelfall bleibt diese Entscheidung aus der Perspektivlosigkeit. Ein
Wendepunkt, an dem die Kreativität und das Durchhaltevermögen versiegen und wir nicht
nur daran gehindert werden unseren Beruf auszuüben, sondern unserer Berufung
nachzugehen.
Und nun? – spaziere ich weiter und lasse die Gedanken um das Zukünftige kreisen. Die
Tischlerei wird mir nicht liegen – außerdem erscheint sie mir nicht systemrelevant genug.
Ohne Tisch könnte ich schließlich leben. Einfacher als ohne Musik.
Hannah, 23, Flötistin
Sarah, 28, Schlagzeugerin
Emilia, 23, Trompeterin
Katia, 32, Sängerin und Songwriterin
Kolja, 29, Schlagzeuger
Vincent, 27, Saxophonist
Wabern in Unwägbarkeit
Ich will mich ja nicht aufregen. Das Schimpfen und Zetern über die Politiker*innen gefällt
mir nicht, tauschen möchte ich jedenfalls mit keinem von ihnen. Über die Corona-
Maßnahmen entscheiden, überhaupt tagtäglich mit der Pandemie befasst sein und am
Ende sowieso nur alles falsch machen, nein danke. Auch jammern will ich nicht, in meinem
engeren Umfeld haben mittlerweile alle ihr Corona-Päckchen zu tragen. Der
Gymnasiallehrer im Homeschooling, die Risikopatientin ohne Impftermin und die
Schwangere mit vorzeitigen Wehen ohne Ehemann im Krankenhaus. Wenn ich jedoch
meine Situation zusammenfasse - 28 Jahre, alleinstehend, im letzten Studiensemester,
zeitweise als freischaffende Orchestermusikerin tätig, jedoch seit einem Jahr so gut wie
ohne Beschäftigung und berufliche Perspektive – finde ich, dass es mich schon auch blöd
erwischt hat.
Außerdem geht es ja nicht um die Frage, wen es blöder erwischt hat und wer bzw. was
wichtiger ist, sondern darum, was überhaupt wichtig ist. Und Kultur ist wichtig.
Ich habe oft den Eindruck, dass eine offen blühende Kulturlandschaft einen stabilen Staat
voraussetzt. Im Gegenzug stabilisiert Kultur den Staat, sie trägt zur Bildung bei und bietet
Raum für die Auseinandersetzung mit konfliktreichen Themen, die an anderen Stellen zu
wenig behandelt werden. Sie beschäftigt zahlreiche Berufs- und noch viel zahlreichere
Hobbykünstler*innen. Und sie berührt. Für mich persönlich ist es besonders die Musik, die
mir dieser Tage Trost spenden oder meine Laune heben kann.
Während meiner Studienzeit habe ich mich oft gefragt, ob es nicht fahrlässig ist, auf einen
Job als Orchestermusikerin zu setzen. Die festen Stellen sind rar und als Freischaffende Fuß
fassen zu wollen, ist ein gewagtes Unterfangen. Heute jedoch kann ich selbstbewusst
sagen, nein, es war nicht fahrlässig. Ich habe mich auf ein gutes Niveau gearbeitet, viele
Kontakte geknüpft und war vor der Pandemie häufig bei verschiedenen Orchestern als
Aushilfe zu Gast. Diese Tätigkeit könnte ich theoretisch nach dem Sommer, wenn meine
Studienverpflichtungen wegfallen, noch ausbauen und damit meinen Lebensunterhalt
finanzieren. Vielleicht zusätzlich ein wenig Privatunterricht geben oder zur Absicherung ein
Fernstudium aufnehmen, aber an sich könnte es funktionieren. So habe ich es in
Deutschland jedenfalls kennengelernt.Im Moment jedoch habe ich das Vertrauen in diesen
Plan verloren. Klar, wer weiß, vielleicht haben im Herbst die Konzerthäuser wieder
geöffnet, es werden große Sinfonien gespielt und zusätzliche Schlagzeuger*innen wie ich
benötigt. Oder aber es kommt zu weiteren Schließungen, Stellen werden gestrichen,
Sponsorengelder gekürzt und infolgedessen weniger Aushilfen angefragt. Wie steht es jetzt
mit der Fahrlässigkeit?
“Du musst halt herausfinden, was du willst”, höre ich manchmal. Ja, stimmt schon. Aber
was ist dieser Wille? Ein Wunsch, ein Ziel? Wie frei ist er und muss er realisierbar sein? Es
ist mein Wunsch, dauerhaft in einem Orchester angestellt zu sein, aber kann es mein festes
Ziel sein, wenn ich weiß, wie wenigen Schlagzeuger*innen dies gelingt? Wenn ein
Probespiel, also das Vorspiel um eine solche Stelle, ansteht, habe ich natürlich ein Ziel, ich
möchte es gewinnen. Wie viele solcher Probespiele ich in den letzten 12 Monaten
bestreiten durfte? Eins.
Ich habe das Gefühl, meinen Zielen werden in diesen Zeiten neue Grenzen gesetzt und ich
zweifle an meiner Willensstärke, diese zu überschreiten.
Die Sorge um meine berufliche Zukunft beschäftigt mich ständig: beim Kochen, beim Üben,
auf dem Fahrrad. Mein morgendlicher Weg zur Hochschule führt mich um die Hamburger
Außenalster, an der seit kurzem an Wochenenden und Feiertagen Maskenpflicht herrscht,
allerdings nur von 10-18 Uhr. Als ich am Sonntagmorgen um 9 unterwegs bin, tummeln sich
infolgedessen neben mir so viele Jogger wie seit Wochen nicht. Und dann rege ich mich
doch auf. Über diesen sinnlosen Aktionismus, dieses halbherzige Handeln. Es ist wie eine
verschleppte Krankheit, die man mit Medikamenten in Schach hält, um irgendwie durch
den Tag zu kommen. Um sie effektiv zu bekämpfen, müsste man sich aber einige Tage ruhig
ins Bett legen oder zumindest genau überlegen, welche Medikamente angemessen wären.
Eine Maskenpflicht dort, wo viele Menschen unterwegs sind, ist sehr sinnvoll, aber dann
bitte ohne Ausweichtermine. Sonst kommt man nicht vom Fleck.
Auch die rigorose Schließung von Kultureinrichtungen erschien mir oft als zu dankbare, weil
einfache Lösung. Als im Herbst für kurze Zeit wieder eine begrenzte Zahl Zuhörer in die
Konzertsäle durfte, wurden vorbildliche Hygienekonzepte erarbeitet. Wohl auch dank eines
disziplinierten Publikums ist mir aus dieser Zeit kein Fall eines Superspreader-Events der
Klassikszene bekannt. Auch jetzt höre ich häufiger von Spiel- oder Wettkampfabsagen im
Sport als von ausgefallenen Konzerten. Und ja, auch in den Orchestern wird getestet. Dies
können allerdings in der Regel nur die großen Häuser finanzieren. Viele kleinere, von denen
sowieso schon einige auf wackligen Füßen stehen, haben nach wie vor keine Möglichkeit,
ihren Spielbetrieb aufrecht zu erhalten.
Ach, hätten wir Musiker doch auch einen Karl-Heinz Rummenigge. Er könnte für uns ein
gutes Wort bei den Mächtigen einlegen und daran erinnern, dass Orchester und Ensembles
wichtig für ganz Deutschland sind, wegen der Repräsentation im Ausland und der
Steuereinnahmen aus dem Milliardenumsatz.
Ich merke, so langsam verlasse ich mein sicheres Terrain. Für fundiertere Argumente
müsste ich Recherche betreiben und eine intensive Auseinandersetzung mit den
Auswirkungen der Pandemie ertrage ich momentan schlecht. Deswegen zurück in meinen
kleinen Kosmos und zu der Frage, was ich eigentlich will. Ist es wirklich mein größter
Wunsch, Orchestermusikerin zu sein? Ständig muss man sich fit halten und manchmal
belastet es mich, auf der Bühne den äußeren und besonders meinen inneren
perfektionistischen Ansprüchen genügen zu müssen. Wäre es außerdem nicht schön, einen
Beruf auszuüben, der etwas mehr Sicherheit gewährt und wirklich so richtig richtig sinnvoll
ist? Bei dem ich zudem die Wahl hätte, näher an meiner Heimat und meiner Familie zu
leben? Es gibt ja durchaus andere Dinge, dich mich interessieren. Mit Kindern arbeiten
kann schön sein, ich bin schließlich auch pädagogisch ausgebildet. Quereinstieg
Grundschullehramt, das wäre doch etwas. Ja, das könnte doch tatsächlich gut passen.
Dann höre ich mir eine Mahler-Sinfonie an und fühle mich in die Gewissheit ein, nie wieder
mit meinem Lieblingsorchester auf der Bühne stehen zu dürfen. Ach verdammt.
Sarah, 28, Schlagzeugerin
Üben Sie weiter, hier gibt es nix zu spielen!
Meine Eltern sind beide Orchestermusiker:innen. Als Kind habe ich das als einen völlig
normalen, wichtigen und wertgeschätzten Beruf wahrgenommen, von dem eine Familie
sehr gut leben kann. Heute bin ich 23 Jahre alt, bezeichne mich selbst als Musikerin und
frage mich zunehmend, was meine Perspektive ist.
Schon vor der Pandemie hörte man regelmäßig von geschlossenen Theatern, eingesparten
Orchestern und 300 Bewerber:innen auf eine Stelle. Trotzdem habe ich nie so deutlich vor
Augen geführt bekommen, wie wenig Wertschätzung Kultur in Gesellschaft und Politik
erfährt wie im vergangenen Jahr. Nach 14 Jahren des täglichen Übens fiel es mir in den
letzten Monaten immer schwerer, stundenlang Töne auszuhalten, um den Ansatz für
etwaige Konzerte in ungewisser Zukunft zu bewahren. Einige Kommiliton:innen machen
jetzt „etwas Richtiges“, die anderen suchen psychologische Hilfe.
Musik ist nicht nur für uns wichtig, sondern für so viele Menschen – und zwar gerade jetzt!
Nach jedem der wenigen letzten Konzerte erreichten mich und andere Künstler:innen
Nachrichten der unendlichen Dankbarkeit und Freude. Menschen, denen eine halbe
Stunde Musik Energie für einen Monat gegeben hat.
Kunst und Kultur stattfinden zu lassen – ob im Stream oder mit einem durchgetesteten
Publikum – ist möglich. Es ist nicht nur möglich, sondern es ist auch unheimlich wichtig, um
allen Menschen, die von und für Kunst leben, zu zeigen: Du bist relevant! Du bist nicht
allein! In diesem Moment, in dieser Melodie sind wir gemeinsam!
Gebt uns den Raum künstlerischen Austausch stattfinden zu lassen. Es mag nicht zum
romantisierten Bild unseres Berufs passen, aber was wir tun ist auch und gerade in den
letzten Monaten harte Arbeit – und kostet Geld! Es ist (offensichtlich) notwendig, das
Leben Kunstschaffender in der Gesellschaft transparenter zu machen, sowie ein
Verständnis dafür zu schaffen, dass wir nicht einfach aufgeben und uns einen anderen Job
suchen. Weil Kunst eben nicht nur ein Job ist, sondern einen viel tieferen Sinn hat. Weil wir
es einfach tun müssen.
Aber wir brauchen Menschen mit Mut und Verstand, die dafür eine Grundlage schaffen.
Emilia, 23, Trompeterin
Kunst rettet Seele.
Kunst rettet Seele.
Kunst heilt.
Kunst vereint.
Kunst tröstet.
Kunst schenkt Geborgenheit.
Kunst lässt uns spüren, wer wir im Innersten sind.
Kunst bringt unsere Essenz zum Ausdruck, die Essenz des Menschseins.
Das sind keine neuen Erkenntnisse und doch scheint es, als wären die Bedeutung und der
Wert von Kunst noch lange nicht in unserer Gesellschaft angekommen.
In der Pandemie wird dieser Zustand sichtbarer denn je.
„Wir sind die rauschende Seele. Wir sind der Herzschlag der Nation“ sagt Herbert
Grönemeyer in seiner Rede am 9. September 2020 bei der Demo #alarmstuferot.
In der Stille der Pandemie wird unser Herzschlag immer leiser, immer schwächer.
„Ich fühle mich auf dem Abstellgleis. Ich werde im Stich gelassen“. Diesen Satz habe ich seit
Corona sehr häufig von Musiker*innen gehört. Manche davon wissen zurzeit nicht mal von
welchem Geld sie ihren Hund füttern sollen.
Während für andere Berufe und Branchen konkrete Konzepte überlegt und umgesetzt
werden, werden wir mit Streamings und Social Media vertröstet.
Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Wo kein Wille ist, da sind nur Ausreden und Ignoranz.
Eine Ignoranz, die weh tut und wütend macht. Als Musiker*in musst du deinen Wert stets
unter Beweis stellen, die eigene Existenz immer wieder aufs Neue rechtfertigen. Oder
haben Sie schon mal gehört, dass eine Anwältin oder ein Anwalt gefragt wurden, ob sie
ihren Beruf nur als Hobby oder auch professionell ausüben?
“Language and music define us as human.” Mit diesen Worten beginnt der
Neurowissenschaftler Aniruddh D. Patel sein bahnbrechendes Werk „Music, Language and
The Brain“. Darin schildert er auf beeindruckende Weise wie sehr Musik Teil unserer
menschlichen DNA ist.
In „Big Magic“ klärt Elisabeth Gilbert uns darüber auf, dass das älteste Zeugnis
menschlicher Kunst über 40.000 Jahre alt ist, während die ältesten Spuren menschlichen
Ackerbaus erst 10.000 Jahre zurückreichen.
Spätestens seit Aristoteles wissen wir, welch eine heilende Wirkung Musik und Theater auf
die menschliche Psyche haben.
Doch das alles scheint nicht ausreichend zu sein. Stattdessen behandeln wir die Kunst
weiterhin wie einen Diamantenring in einem Kaugummiautomaten.
Es heißt: Du bekommst den Wert, den du dir selbst gibst.
Hier bin ich also und fordere, dass einem der höchsten menschlichen Güter nicht länger
der Wert vorenthalten wird, der ihm gebührt. Dazu gehört, dass wir uns jetzt – mehr denn
je – um unsere Künstler*innen kümmern. Dazu gehören konkrete Lösungen. Dazu gehört,
dass Kunst nicht unentbehrlicher ist als ein Lebensmittelgeschäft.
Kunst ist ein Lebens-mittel und unsere Seelennahrung ist gerade dabei, zu verderben.
Katia, 32, Sängerin und Songwriterin
Verdrängen
Ich habe mich gefragt, wann ich diesen Text schreiben soll. Und worüber ich ihn schreiben
soll. Obwohl ich es wichtig finde darüber zu schreiben, habe ich ihn lange vor mir
hergeschoben. Warum ist das so?
Zuerst einmal ist es nicht leicht, momentan freischaffende/r Musiker/in zu sein: Keine
Konzerte, keine Proben, keine Shows, Unterrichten über Zoom oder Skype oder gar nicht.
Keine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Hilfen, die nicht greifen, weil sie teilweise so
konzipiert sind, dass man selbst und die meisten der Kollegen/innen durchs Raster fallen.
Keine Aussicht auf Besserung.
In dieser Situation morgens aufzustehen und sich irgendwie zum Üben, Proben,
Aufnehmen, Arrangieren, Komponieren – kurzum zum Arbeiten zu bewegen, ist alles
andere als selbstverständlich. Ich weiß auch nicht, wie ich es gerade schaffe, mich trotz
allem zu motivieren und mir nicht durch die pandemische Lage die Freude an der Musik
nehmen zu lassen. Ich bin mir nicht sicher, wie ich das hinkriege, aber wenn ich ehrlich bin
glaube ich, dass ich Vieles einfach nur ausblende und verdränge.
Aus Selbstschutz versuche ich, nichts an mich heranzulassen, was mich so runterzieht, wie
es im November beim (nicht ausreichenden) „Lockdown-Light“ der Fall war. Die
Motivation, die ich nach Wochen mal wieder verspüre, wenn ich das Gefühl habe,
tatsächlich voranzukommen mit dem Instrument, dem Programm oder einfach nur einer
Idee, könnte sich wieder komplett in Luft auflösen. Positiv bleiben und alles andere
ignorieren!
Das mag der Grund sein, warum ich so einen Text lieber nach wichtigen Terminen schreibe
oder aus einer schlechten Laune heraus. Während ich diese Zeilen schreibe ist weder das
eine noch das andere der Fall.
Anstatt über die großen Zukunftssorgen zu schreiben, die man als Musiker/in im Moment
hat, oder über die Wut, die sich auftut, wenn man von voll besetzten Ferienfliegern aber
fast leeren Theatern und Konzerthäusern liest, möchte ich eigentlich nur zeigen, dass ich im
Moment nicht darüber schreiben kann. Weil es einen fertig macht und jeden Impuls und all
die Kraft nimmt, wenn man die Situation in der wir uns befinden genau betrachtet.
Am 1. März 2020 habe ich meine letzte Vorstellung in voller Orchestergröße vor vollem
Haus gespielt. Die Bilanz seitdem liest sich bescheiden. Ein (Kammermusik-)Konzert mit
Publikum (ausverkauft vor 200 Besuchern statt 2000, die den Saal sonst füllen), zwei
Aufnahmen, einmal für das Radio einmal für einen Stream. Drei Probespiele fanden statt,
eins davon lief recht erfolgreich, das andere nicht und für das dritte hatte ich keine
Einladung. Alle anderen wurden abgesagt. Von März bis Ende Juni habe ich kein Orchester
live gehört, weder im Publikum noch als Mitwirkender, so lange wie noch nie zuvor,
seitdem ich klassische Musik mache. Bei anderen befreundeten Freischaffenden ist das
Resultat ähnlich.
Normalerweise würde ich jetzt ein Probespiel nach dem anderen machen können, jede
Woche Konzerte, Vorstellungen, Shows oder Proben spielen und den Rest mit Unterrichten
verbringen, sodass nicht mal mehr genug Zeit zum Üben bliebe. Ohne Pandemie könnte ich
gut davon leben, habe ich auch vorher schon. Stattdessen bleibt, wie auch die letzten zwölf
Monate, nur das Üben und die fehlenden Perspektiven und Einnahmen.
Wie geht es mir damit?
Ich bin ein optimistischer Mensch. Wenn ich so in mich hineinhöre oder in Gesprächen mit
Freunden, Familie und anderen Musiker/innen bin, versuche ich immer positiv zu bleiben
und zu hoffen, dass sich die Gegebenheiten bessern. Es geht mir in Anbetracht der
Situation erstaunlich gut, was bedeutet, dass ich gut im Verdrängen bin. Ich denke nicht,
dass es gesund ist, zu verdrängen. Andererseits könnte ich mich ansonsten nicht wirklich
auf das Spielen, Üben und Arbeiten konzentrieren. Und das ist in dieser Zeit das Einzige,
was ich wirklich in der Hand habe. Zu spielen und zu arbeiten, trotz Corona. Deshalb fahre
ich heute Nachmittag auch wieder in meinen Probenraum und übe weiter.
Kolja, 29, Schlagzeuger
Musiker*in sein, eine Luxusentscheidung?
Immer, wenn ich zu meiner Situation in der Pandemie gefragt werde, ist es mein erster
Impuls zu sagen: Eigentlich habe ich Glück.
In erster Linie, weil es mir finanziell recht gut geht, da ich ein halbes Jahr vor Beginn der
Pandemie sehr seltene Festanstellungen an zwei staatlichen Musikschulen „ergattern“
konnte. Dafür bin ich dankbar, denn überhaupt fest angestellt zu sein, ist im Musikschul-
Kontext eine absolute Seltenheit. Außerdem unterrichte ich sehr gern und empfinde auch
diesen Beruf als Teil meiner Berufung als Musiker. Im Vergleich zu vielen Kolleg*innen habe
ich nur aus diesem Grund keinerlei Existenzängste haben müssen. Auch wenn ein
erheblicher Teil meiner Einnahmen normalerweise aus der Konzerttätigkeit stammt, waren
so zumindest grundsätzliche Lebenshaltungskosten und ein gewisser, kleiner Lebensluxus
durch das feste Einkommen garantiert. Hinzu kommt, dass viele Musiker*innen und
Veranstalter*innen in meinem Umfeld kreativ mit der Pandemie umgegangen sind, indem
sie Tonaufnahmen umgesetzt haben oder neue Konzertreihen organisiert haben, die
pandemiegerecht durchgeführt werden konnten.
Auch diesbezüglich hatte ich wohl einfach Glück in einer Stadt zu leben, in der ich nun
schon einige Jahre arbeite und mich als Musiker auf eine gewisse Weise etablieren konnte,
sodass ich ein paar, wenn auch im Vergleich zu 2019 wenige, wunderbare musikalische
Erlebnisse machen durfte.
Dennoch bin ich nicht ausschließlich glücklich und an manchen Tagen besorgt und sogar
wütend. Es fällt mir gar nicht leicht, dies so deutlich zu formulieren, da ich in der Regel
versuche, mir selbst und anderen in meinem Umfeld Hoffnung zu machen und daher
diesen Emotionen selten einen großen Raum gebe.
Es macht mir große Sorgen zu beobachten, dass viele Musiker*innen ihren Job an den
Nagel hängen müssen, da sie von ihrer Berufung nicht mehr leben können. Und das,
obwohl sie zuvor erfolgreich waren – damit meine ich persönlich, dass sie sich als
wertvoller und geschätzter Teil einer kulturellen Szene etabliert haben, während sie damit
genügend Einkünfte hatten, um zufrieden zu sein und finanziell auf sicheren Beinen zu
stehen.
Insbesondere abseits des sogenannten Mainstreams gibt es diverse Künstler*innen, die
viele andere Menschen berühren und die Diversität unserer Gesellschaft prägen. Jede
einzelne Stimme die erlischt, jeder Club der schließen muss reißt eine tiefe Wunde in das
kulturelle Gesicht unserer Gesellschaft.
Ich fühle mich, um die Worte meiner Frau auszuleihen, als wäre es mittlerweile einzig und
alleine eine Luxusentscheidung, dass ich weiterhin als Musiker existieren und auf eine Zeit
nach der Pandemie hoffen kann, in der ich erneut regelmäßig mit meiner Musik Menschen
berühren darf – auch abseits des Mainstream.
Das ist ein Luxus, der für viele andere nicht gegeben ist und es macht mich sehr traurig
darüber nachzudenken, was dieser Fakt über den Wert der Kultur in unserer Gesellschaft
aussagt.
Vincent, 27, Saxophonist